Das Spiel und die Kreativität

Ich hatte das große Glück, mit einer Mutter aufzuwachsen, die mir von klein auf das Gefühl gab, ein vollwertiger Mensch zu sein. Es ging in meiner Kindheit nicht nur um das, was ich zu lernen hatte. Es ging immer auch um das, was mich an eigenen Vorstellungen umtrieb. Meine Mutter bewies großes Talent darin, ein Gleichgewicht zwischen dem, was von mir erwartet wurde, und dem, was ich mitbrachte, herzustellen. Ich erinnere mich an unzählige Situationen, in denen sie mich zu etwas ermutigte und mir vermittelte, dass sie an mich glaubte. Nicht selten ging es dabei um kreative Einfälle. Meine Mutter war es auch, die die Empfehlung meiner Musiklehrerin ernst nahm, ein Klavier anzuschaffen, und mir Klavierunterricht ermöglichte. 

Heute weiß ich, dass meine Mutter ihr Erziehungstalent auf Basis eigener, sehr schmerzhafter Erfahrungen in der Kindheit entwickelt hat. Zu einer Zeit, in der ein autoritärer Von-oben-herab-Erziehungsstil die Regel darstellte, entdeckte sie alternative Konzepte und ließ sich unter anderem durch die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg oder reformpädagogische Ansätze inspirieren. Dass meine Mutter es geschafft hat, zu der Mutter zu werden, die sie selbst nie gehabt hatte, bewundere ich bis heute.

Ähnlich wie meine Mutter erleben sich viele Heranwachsende als Menschen, die von früher Kindheit an vorrangig den elterlichen Erwartungen ausgesetzt sind. Im schlimmsten Fall erfahren sie, dass ihnen Beachtung, Zuneigung und Liebe nur dann zuteilwerden, wenn sie diesen Erwartungen entsprechen. Damit ist die Basis für einen Leistungsdruck gelegt, der sie mitunter ihr gesamtes Leben vor sich her treibt – bis ein Einschnitt, etwa eine Erschöpfungsdepression, sie zum Innehalten bringt. Wir kennen diese Lebensgeschichten aus Filmen, der Literatur oder dem eigenen Umfeld. 

Der Hirnforscher Gerald Hüther unterscheidet in seinen Büchern bei der Frage, wie wir anderen Menschen begegnen, zwischen Subjekt und Objekt. Vereinfacht gesagt begegnen wir einem anderen Menschen als Subjekt, so lange wir ihn als eigenständiges Wesen wahrnehmen und seine Bedürfnisse respektieren, während wir ihn zu einem Objekt machen, sobald wir ihn für unsere Zwecke benutzen – beispielsweise, um unsere Erwartungen erfüllt zu wissen, oder um unsere Bedürfnisse zu stillen. Auch in der Art und Weise, wie wir mit uns selbst umgehen, spiegelt sich wider, ob wir uns als Subjekt sehen oder uns zum Objekt machen. In Education for Future, Bildung für ein gelingendes Leben schreibt Hüther über das Erleben von Kindern als Subjekte:

Zu erfahren, dass andere ihnen als Subjekt begegnen, ist für Kinder deshalb so bedeutend für ihr gelingendes Leben, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass sie ihre natürliche Lust am Lernen und Gestalten und am Verbinden mit anderen bewahren. Es ist auch die Grundlage dafür, dass sie eine innere Orientierung in ihrem Leben finden können.

Offen gesagt hatte ich früher wenig Verständnis für Menschen, die sich im Erwachsenenalter mit Versäumnissen der Kindheit beschäftigten. Ein erwachsenes Leben, so meine damalige Auffassung, orientierte sich an der Gegenwart und kreiste in erster Linie um die Frage: Was kann ich heute tun? Das Leben lehrte mich über die Jahre, dass diese Auffassung zutreffend sein mochte und es gerade deswegen erforderlich sein konnte, zu erkennen, woher wir kommen. Wenn die Kindheit als Schlüssel beschrieben wird, impliziert dies ja, dass sie eine Tür öffnen kann – aus meiner Sicht eine Tür zu einem gesünderen Leben, weil die Wunden von einst erkannt, versorgt und über-wunden werden.

Das Kind-Sein spielt auch im Zusammenhang mit Kreativität eine Schlüsselrolle. Dabei geht es tatsächlich um das Spiel, oder genauer gesagt: um die Fähigkeit zu spielen, die wir bei Kindern besonders gut beobachten können. Mit der Parallele zwischen dem kindlichen Spiel und der Kreativität haben sich schon eine ganze Reihe Menschen vor mir beschäftigt. Davon wusste ich nichts, als ich vor einigen Jahren auf die Verbindung zwischen dem Spielen und dem Kreativsein stieß. Ich befand mich in Vorbereitung auf einen Vortrag und fragte mich, wie ich Menschen, die glaubten, sie seien nicht kreativ, dazu einladen konnte, eine andere Perspektive einzunehmen. „Was erlebe ich, wenn ich kreativ bin?“, fragte ich mich immer wieder, während ich in der Sonne saß und mein Eis löffelte. In Antwort darauf entstand eine Liste, die in etwa so lautete:

Ich weiß, was ich zu tun habe, und fühle mich geführt. Mein Kopf spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Ich bin ganz im gegenwärtigen Augenblick und vergesse das Gefühl für Zeit und Raum.
Ich fühle mich getragen von einer tiefen Freude und Zuversicht.
Ich probiere aus, ohne dass es dabei um „richtig“ oder „falsch“ geht.
Ich fühle mich verbunden mit der Welt.
Ich bin hoch konzentriert und zugleich entspannt.
Ich habe keine Zweifel – weder an mir noch an dem, was ich tue.
Ich bin ganz. Meine Schwächen und Ängste rücken in den Hintergrund.

Welchen Anknüpfungspunkt bot diese Liste? Da fiel es mir ein: das Spiel der Kinder. Und zwar die Art von Spiel, bei der die Vorstellungskraft im Vordergrund steht, und nicht das Gewinnen-Wollen. Die Erfahrungen, die ich als spielendes Kind gesammelt hatte, kamen meinen kreativen Erfahrungswerten verblüffend nah! Verblüfft war ich auch, in der Folgezeit zu erfahren, wie sehr sich meine Beobachtungen mit den Entdeckungen Anderer überschnitten. So erfuhr ich, dass der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi mit dem „Flow“ schon 1975 ein Erleben definierte, das meiner Auflistung ähnelte. Verstanden nicht als Methode, sondern als Zustand, wurde Csíkszentmihályis „Flow“ zu einem bis heute viel beachteten, wenn bisweilen auch missverstandenen oder verwässerten Konzept. Weniger bekannt sein dürfte, dass sich schon in den 1950er-Jahren der Spieltheoretiker Hans Scheuerl mit dem Wesen des Spiels beschäftigte und Kriterien aufstellte, die an den „Flow“ erinnern. Der vorwiegend für seine Bedürfnis-Pyramide bekannte Psychologe Abraham Maslow stellte 1964 das „Gipfelerlebnis“ („peak experience“) vor, dessen Charakteristika Verspieltheit ebenso beinhalteten wie Kreativität.  Im Erleben eines Zustands, der von Klarheit, Selbstvergessenheit und Friedlichkeit zeugt, scheinen die Grenzen zwischen dem Spiel und der Kreativität zu verwischen. Unsere Bereitschaft zum kindlichen Spiel kann demnach den Weg ebnen für eine gestalterische Lebenseinstellung auch im Erwachsenenalter.

Erinnerst Du Dich an Dein Spiel in der Kindheit? Durftest Du spielen? Hast Du gerne gespielt? 

Ich genoss das Spiel in der Natur. Aus Gräsern und Gänseblümchen wurden Suppen mit Fantasie-Namen. Oder ich war ein Cowboy, der auf seinem Pferd (mein gelb-rot-grünes Pumuckel-Fahrrad) durch die Prärie ritt. An regnerischen Tagen liebte ich Legosteine. Unzählige Stunden verbrachte ich mit dem Errichten ganzer Dorfgemeinschaften. Eher ungern spielte ich hingegen mit Barbie-Puppen, wenn mich meine Schwester oder Freundinnen darum baten. Ab meinem siebten oder achten Lebensjahr begann dann das Spiel meines Lebens: das Klavierspiel. Daraus wurde im Erwachsenenalter ein Musik-Machen, das um meiner Lebensfreude willen im Laufe meiner 30er zurück ins Spiel fand.


Wie war es bei Dir? Wenn Du Dich an Dein Spiel in der Kindheit nicht erinnern kannst oder möchtest, sieh Kindern beim Spielen zu. Oder besser noch: Spiel mit Kindern. Lass Dich auf ihr Spiel ein. Wie erlebst Du Dich dabei? Fällt es Dir schwer? Bereitet es Dir Freude? Verändert es Dein Befinden?

Welche Bedeutung dem kindlichen Spiel für das Erwachsenenleben zuteilwird, formuliert Rainer M. Holm-Hadulla in Kreativität – Konzept und Lebensstil:

Somit steht das kindliche Spiel nicht im Gegensatz zur Realität, sondern stellt einen unverzichtbaren Bestandteil ihrer Bewältigung dar. Kreatives Spielen mit Ideen, Bildern und musikalischen Eindrücken verleiht chaotischen menschlichen Emotionen Struktur und Kohärenz.