Gegen den Hass

Ganz Deutschland hasst die AfD! ✊ – Feststellungen wie diese begegnen mir zu Beginn des Jahres 2024 immer häufiger. In diesem Fall auf einer Business-Platform. 

Menschen finden sich in diesen Tagen zu Demonstrationen ein, und das in einer Größenordnung, die wir uns noch vor geraumer Zeit nicht hätten vorstellen können. Wobei wir sie uns gewünscht haben. 

Es war eine Investigativ-Recherche, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Dass es rechte Strömungen gibt, das wussten wir ja schon. Dass es antidemokratische, faschistische Kräfte gibt, die dem Anschein nach ungebremst ihre Wirkung entfalten, auch. Aber wir wussten nicht, wie wir hierzulande damit umgehen sollten. Wir, die stille Mehrheit, von der immer die Rede war, und in deren Richtung immer wieder angemahnt wurde, sie müsse lauter werden. 

Die Demonstrationen seien nur ein erster Schritt, heißt es nun. Es sei gut, dass immerhin sichtbar werde, dass jene Menschen, die sich extremen Parteien zugehörig oder nah fühlten, eben bei Weitem nicht die Mehrheit darstellten. Wie aber kann die jetzt sichtbare, aber irgendwie immer noch stille Mehrheit von nun an nicht nur punktuell sichtbar, sondern auch flächendeckend lauter werden? Wie unsere demokratischen Verhältnisse stärken, wenn nicht sogar verteidigen? Wie sich Gehör verschaffen, analog wie digital, um den öffentlichen Diskurs in eine Richtung zu lenken, die nicht von Spaltung, sondern von Gestaltung zeugt – damit wir auch in Zukunft in einem vielfältigen und zukunftszugewandten Land leben können?


Ich lande bei Fragen wie diesen wieder bei meinem Störgefühl, meiner Ratlosigkeit. Denn ein lauter war bisher gleichzusetzen mit einem Schreien. Einem Zurück-Hassen. 

Ganz Deutschland hasst die AfD! ✊

Das bin ich nicht. Ich möchte nicht hassen. Niemanden.

Hass ist nicht klug. Er ist blind. Er ist rückwärtsgewandt. Er ist reaktiv. Er macht es sich leicht.

Wenn ich eines in den letzten Jahren, in denen ich stiller als viele Andere war, verstanden habe, dann dies:

Wer auf Menschenfeindlichkeit und Hass mit Menschenfeindlichkeit und Hass antwortet, macht es nicht besser – auch und vor allem dann nicht, wenn er sich für moralisch überlegen hält. 

Denn das mit der Moral ist so eine Sache. Sie handelt davon, sich auf der richtigen Seite der Geschichte zu wähnen. Im Recht zu sein. 

Und recht haben zu wollen, das wissen wir alle aus müßigen Konflikten im Berufs- und Privatleben, ist so ziemlich das Gegenteil von einem angenehmen und gelingenden Miteinander.

Natürlich will auch ich auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Ich will verhindern, dass Menschen großes Unrecht oder unendliches Leid angetan wird. Jede mitfühlende Zelle in mir will das. Jeder spontane Impuls. Ich will Menschen an den Kragen gehen, die sich Unschuldige zum Opfer machen. Will auf sie losgehen. Sie einschüchtern und kleinmachen, damit sie aufhören. 

Als würden sie dadurch wirklich aufhören! 

Denn wenn ich die Sache pragmatisch betrachte und mich frage, wohin all das führen würde, muss ich mir eingestehen: Es würde tatsächlich nirgendwo hinführen. Ich würde mich beteiligen an einer Spirale von Hass und Gewalt und wäre dabei womöglich genauso blind und unklug, wie ich es den Anderen zum Vorwurf mache.

Dann meldet sich der Teil in mir zu Wort, der sich seit Jahren mit Konfliktlösung, familiärer Prägung und Traumata beschäftigt. Diese Stimme sagt nicht: 

Hab Verständnis für Menschen, die anderen Menschen Leid antun.

Sie sagt:

Du hast ein Verständnis davon, was Menschen dazu bringen kann, sich im Schmerz von sich selbst zu spalten und sich und Andere zu hassen. Wenn du klug sein und dem Hass etwas entgegensetzen möchtest, wendest du dich diesem Schmerz zu. Erst deinem, und dann dem der Anderen.
 

Die 42-Jährige, die gerade genug Lebenserfahrung gesammelt hat, um nicht naiv zu sein, erwidert:

Es mag eine gehörige Anzahl an Menschen geben, die du erreichen kannst, wenn du über deinen eigenen Schmerz und Hass hinauswächst. Wenn du bereit bist, Hass auszuhalten, anstatt ihn zu erwidern. Es wird aber auch immer Menschen geben, die du nicht erreichen wirst. Du brauchst einen guten Plan, um die einen von den anderen zu unterscheiden. Du musst dir deine Kräfte einteilen. Und du solltest dich regelmäßig fragen, in welcher Haltung du auf einen Menschen zugehst. Wenn du aufrichtig an ihm und seiner Geschichte interessiert bist, geh hin. Wenn du dich in erster Linie für klüger oder besser hältst und im Recht sein möchtest, lass es bleiben.
 

Wenn wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen wollen, darf es uns nicht darum gehen, recht zu haben. Auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, heißt so liebevoll zu sein, wie wir nur irgend können. 

Dabei weiß ich spätestens seit der Lektüre von bell hooks’ Alles über Liebe, dass das Wort Liebe viel zu unpräzise ist, als dass es uns den Weg weisen könnte. Für mich mag bell hooks’ Ethik der Liebe, die von Fürsorge, Zuneigung, Verantwortung, Respekt, Hingabe und Vertrauen zeugt, eine hilfreiche Handlungsempfehlung sein – aber ist sie es auch für die stille Mehrheit? Und überhaupt: Sind Zuneigung, Verantwortung, Respekt, Hingabe und Vertrauen laut genug?

Ein entscheidender Wendepunkt in meiner ganz persönlichen Geschichte war jenes Jahr mit Anfang 30, als aus meinem Gegen ein Für wurde. Dabei ging es um die Erkenntnis, dass ich nicht länger der Gegenentwurf zu einem Elternteil sein wollte, dessen Lebensführung mich Zeit meines Lebens in Mitleidenschaft gezogen hatte. Ich begann zu begreifen, für was ich von nun an antreten wollte. Das machte mich freier als je zuvor. Es setzte ungeahnte Kräfte frei.

Bis heute kann ich anerkennen, dass mein unbändiger Überlebenswille sich in den ersten 30 Jahren meines Lebens vor allem aus einem Gegen gespeist hat, und dass dieses Gegen mich so lange begleitet und am Leben gehalten hat, bis es durch mein Für abgelöst werden konnte. 

Meiner Lebenserfahrung nacht trifft es also zu: Es ist leichter, gegen etwas zu sein als für etwas. Auch im öffentlichen, politischen Diskurs begegnet uns diese Aussage. Dabei sollten wir nicht verkennen – und das erleben wir ja gerade von rechts kommend –, wie viel Kraft in einem Gegen stecken kann. Vielleicht sollten auch wir uns diesen Effekt zunutze machen. Und vielleicht sollten wir dabei besser als bisher verstehen, was unser kraftvolles Gegen sein könnte.

Ich hätte gerne die Zeit, zu klären, für was wir als Gesellschaft, als Nation im Jahr 2024 stehen. Unsere Werte, unsere deutsche Kultur, das, was uns verbindet, treiben mich nicht erst seit meinen Konzertreisen in den Libanon um.

Allerdings glaube ich, dass wir diese Zeit, uns mit uns selbst und unseren Werten zu beschäftigen, gerade nicht haben. Möglicherweise wäre eine solche Klärung zum jetzigen Zeitpunkt sogar ein Vorwand, um nicht in die Gänge zu kommen und klar Position zu beziehen. Vielleicht können wir die Frage nach unseren Werten ja auch gar nicht klären. Vielleicht klären sie sich selbst, wenn wir nur anfangen, uns zu bewegen und zu äußern. 

Wenn meine Beobachtungen und Schlüsse der letzten Jahre einigermaßen zutreffen, wenn ich den Menschen in meinem Umfeld aufmerksam genug zugehört und die vielen klugen Menschen, deren Bücher ich gelesen habe, annähernd richtig verstanden habe, dann könnte uns schon sehr damit geholfen sein, wenn wir uns für den Moment darauf verständigen, dass wir uns gegen den Hass stellen, ganz gleich von welcher Seite er kommt. 

Vielleicht müssen wir nicht lauter werden, um besser gehört zu werden. Vielleicht reicht es ja, wenn viele von uns viel öfter als bisher eine unmissverständliche Position gegen jede Form von Abwertung und Hass einnehmen. Analog wie digital. Das würde bedeuten, dass wir Menschen, ob sie nun von links oder rechts herangerauscht kommen, ob von oben oder unten, dass wir also diesen Menschen mit der nötigen Entschlossenheit und einer unwiderstehlichen Gelassenheit entgegentreten und sagen: „Bitte! Nicht in dieser Tonalität.“

Es würde konsequenterweise auch bedeuten, dass wir es uns selbst nicht mehr durchgehen lassen, wenn uns der Tonfall entgleitet. Wir würden über Menschen, die einen anderen politischen Standpunkt vertreten als wir, und sei dieser Standpunkt aus unserer Sicht auch noch so inakzeptabel, nicht mehr sprechen, als seien sie Menschen zweiter Klasse – weder Idioten, noch Menschen mit kleinem Pimmel.

Wenn wir einander darin ermutigen würden, würden wir dazulernen. Erst jede und jeder für sich, und dann wir alle voneinander. Wir würden lernen, was es heißt, eine Mehrheit zu sein, die hörbar ist, ohne zu schreien. Und aus unserer Entscheidung gegen den Hass würde eine Entscheidung für ein neues, friedlicheres Miteinander.