Elisabeth von der Buchhandlung Scheuermann (die in dieser Ankedote tatsächlich eine zentrale Rolle spielen wird) und ich gehen in einer gemeinsamen Mittagspause in den nahegelegenen Museumspark. Auf ein Tischtennis-Match. Wir erleben unbeschwerte Minuten mit Spätsommersonne und leichter Brise, als sich uns zwei Jungs im Teenageralter nähern. Ob wir einen Ersatz-Schläger hätten, den wir ihnen ausleihen könnten. Wir müssen passen. Woraufhin die beiden nicht etwa davonstiefeln. Sie setzen sich auf die benachbarte Platte und gucken uns zu. Einfach so. Ohne unangenehme Vibes oder Kommentare. Ich kann nicht ausschließen, dass Elisabeth und ich uns nun noch ein bisschen mehr ins Zeug legen. Wenn schon mal Publikum da ist.
Unterdessen überschlage ich im Kopf ein paar Optionen. Unsere Pause wird bald enden.
Werden wir gleich von dannen ziehen und zwei Teenager zurücklassen, die nicht spielen können, weil ihnen ein Schläger fehlt, während unsere gleich in der Schublade landen werden?
Wenn wir diesen Jungs einen unserer Schläger ausleihen würden mit der Bitte, ihn später in der Buchhandlung abzugeben – würden die beiden möglicherweise zum ersten Mal in ihrem Leben eine Buchhandlung betreten? Sie würden in jedem Fall erleben, dass zwei gestandene, wenn auch verspielte, Frauen ihnen vertrauen – ihnen etwas anvertrauen, das ihnen lieb ist. Sie würden außerdem die Erfahrung machen, dass es in Duisburg einen coolen Ort wie die Buchhandlung Scheuermann gibt – und dass dieser Ort sie noch dazu willkommen heißt.
Diesen Optionen gegenüber stünde das Risiko, dass wir den Schläger nach dem Verleih nicht mehr zu sehen bekommen könnten. Warenwert: Um die 15 Euro. Immaterieller Wert (wegen der schönen Erinnerungen): deutlich höher.
Als die Jungs kurz abgelenkt sind, halte ich Rücksprache mit Elisabeth. Ihren Segen habe ich.
Als es an der Zeit ist, in die Buchhandlung zurückzukehren, unterbreiten wir den beiden das Angebot, ihnen einen unserer Schläger auszuleihen mit der Bitte, ihn uns in die Buchhandlung zu bringen. Große Augen antworten ohne Zögern, mit großer Leidenschaft: “Wir bringen den Schläger zurück, darauf können Sie sich verlassen! Aber können wir vielleicht auch einen Ball haben?“ Daran soll es jetzt natürlich nicht scheitern. Kurze Erklärung noch, wo die Buchhandlung liegt. Und dann tigern Elisabeth und ich zurück, irgendwo zwischen diebischer Freude über die überraschten Gesichter der beiden jungen Männer und voller Neugier auf den Ausgang unseres kleinen Experiments. Wobei es ja gar nichts zu verlieren gibt. Möglicherweise haben wir gerade zwei Teenagern einen Tischtennisschläger „geschenkt“, die sich keinen leisten können. In jedem Fall haben wir ihnen unser Vertrauen geschenkt und damit signalisiert, dass sie uns nicht egal sind.
Eine Stunde in der Buchhandlung vergeht. Dann muss ich weiter zu einer Besprechung. Noch ist alles im zeitlichen Rahmen. Kein Grund zur Sorge. Eine zweite Stunde ist verstrichen, da erreicht mich eine Nachricht von Elisabeth:
„🏓 wieder da 😀👍“
Ich wusste gar nicht, dass es ein Ping Pong Emoji gibt. Was ich wusste, war, dass dieses Experiment eine gute Idee war – so oder so.
Elisabeth wird ihre freudige Meldung später um die Schilderung vervollständigen, dass einer der beiden Jungs etwas verlegen in die Buchhandlung gekommen sei und ziemlich erstaunt geguckt habe, als sie ihm in Aussicht stellte, dass er und sein Kumpel jederzeit vorbeikommen könnten, um Schläger und Ball auszuleihen.
Was wir nicht wissen, ist, ob der Bekannte, dem Elisabeth ein paar Tage später über den Weg lief, unsere kleine Ping-Vertrauen-Pong-Geschichte tatsächlich in seine Sonntagspredigt eingebaut hat – es gab einen Vorfall an der Schule seiner Tochter, bei dem es wohl zu einem ziemlich gewaltwollen Streit an einer Tischtennisplatte gekommen war. Darüber wollte er in seiner Predigt sprechen. Elisabeth erzählte ihm daraufhin unsere Geschichte und stellte ihm frei, sie bei seiner Predig als hoffnungsstiftendes Gegenbeispiel hinzuzuziehen.
Was wir wissen, ist, dass es im Zweifel immer eine gute Idee ist, jungen Menschen zu vertrauen. Mein Seminar an der Hochschule am vergangenen Wochenende zeugte ebenso davon wie die Begegnung mit meinem ehemaligen Grundschüler, der, mittlerweile 13 Jahre alt, am Donnerstag überraschend in der Buchhandlung stand und sich unserem Lese-Schnack zum Thema „Was heißt gesund? Was ist normal?“* anschloss.
*) Es handelte sich dabei um einen Austausch zu dem von mir empfohlenen Buch „Vom Mythos des Normalen– Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung“ von Dr. Gabor Maté (☛ zum Lesetipp).
Meine Gedankenkette nach all diesen Erlebnissen lautet in etwa so:
⛓ Um anderen Menschen vertrauen zu können, gehen wir von ihrem Besten aus.
⛓ Um von ihrem Besten ausgehen zu können, bedarf es mitunter unserer Vorstellungskraft – unserer Kreativität.
⛓ Unsere Kreativität wiederum verhilft uns nicht nur dazu, das Beste in Anderen zu sehen. Sie hilft uns auch dabei, es zum Vorschein zu bringen.