An diesem regnerischen Tag mache ich mich auf den Weg zu Iris. Nicht irgendein Besuch. Ich besuche eine Todkranke auf der Palliativstation.
Einen Zwischenstopp im Blumenladen noch, um einen Strauß binden zu lassen – eine schlichte, schöne Komposition, an der ich Freude hätte, wenn sie auf meinem Küchentisch stünde. Umgeben von Alltagsroutine steige ich in den Zug, stimme ich mich ein auf unwirkliche Stunden mit Iris und vergesse darüber die Zeit.
Meine Haltestelle! Ich schnappe den Rucksack und stürze zur Tür, eben noch rechtzeitig. Der Zug rollt an, es folgt der nächste Schreck: Der Blumenstrauß für Iris liegt noch in der Gepäckablage. Zu spät.
Den Fußweg zum Krankenhaus bestreite ich in innerer Zwiesprache. Nicht ärgern. Nicht in diesen Tagen. Aber traurig bin ich, gleich mit leeren Händen das Krankenzimmer betreten zu müssen.
Da fällt mein Blick auf einen Obdachlosen, am Straßenrand engagiert in seinen Taschen kramend. Auf einer davon lese ich: “Your life is the sum of all your choices.” (“Dein Leben ist die Summe all deiner Entscheidungen.”) Ein denkwürdiges Bild und eine Überschrift für das Leben – facettenreich, wie ich es gerade erlebe.
“Was ist deine Wahl in diesem Moment?”, fragt es in mir.
Und ich ringe mich durch zu diesen Antworten:
Loslassen.
Vertrauen.
Mir verzeihen – schwer, wie es ist.
Im Krankenhaus angekommen, stelle ich mich Iris als “Schlumpf des Tages” vor und berichte über mein Missgeschick. Wir einigen uns darauf: Es ist, wie es ist.
Dann wird gelacht. Ein bisschen gesprochen über das, was geht. Viel geschwiegen über das, was bleibt.
In meinem Aufbruch spekuliere ich flapsig. Ob ich wohl denselben Zug wie auf dem Hinweg erwischen und den Blumenstrauß wiederfinden werde? Wir lachen wieder.
Eine halbe Stunde und einen Imbiss später rollt mein Heimzug heran. Mein Blick fällt auf eine als defekt gekennzeichnete Zugtür. Hatte der Zug auf der Hinfahrt nicht eine solche Tür?
So unwahrscheinlich es auf dieser hochfrequentierten Strecke erscheint – ich passiere die Sitzreihen, gehe gezielt an meinen Platz. Als wäre nichts gewesen. Der Blumenstrauß ist da.
Großes, ungläubiges, euphorisches Staunen, unter das sich ein leises Gefühl mischt. Ein Gefühl von Nicht-Zufall, während ich zum Telefon greife. Ein Gefühl von “Hier. Ein Geschenk nur für dich.”
Hat das Leben mir gerade wirklich Blumen überreicht?
Für Iris am anderen Ende der Leitung ist die Sache klar. Stolz wird sie unsere Geschichte in den kommenden Tagen weitererzählen, selbst immer wieder ganz verzückt von solcher Fügung.
Geteilte, unbändige Freude über einen Verlust, der schlussendlich keiner war.
Die Geschichte des zurückgekehrten Blumenstraußes – an Iris’ Abschiedsfeier tröstete sie wenige Wochen später die Trauernden, wurde sie zu dem Versprechen: Liebe geht niemals verloren.