Brauchen wir vielleicht den Begriff “schopfen”?

Von einer Kreativtum-Abonnentin aus der Schweiz kam die Anregung zu diesem Thema:

Opfer von Umständen oder eigenverantwortliche, kreative Akteurinnnen und Akteure – welche innere Einstellung macht den Unterschied?

Wobei sie in ihrer E-Mail genau genommen von Haltung und nicht von Einstellung sprach. 

Dass ich mich heute für das Wort Einstellung entscheide, hat damit zu tun, dass ich in diesem Newsletter auf etwas blicken möchte, das nicht einfach da ist wie eine Skulptur, die mit einer bestimmten Haltung in der Gegend herumsteht, sondern dass es heute um etwas Dynamisches geht, etwas, das wir bestimmen – wie wenn wir beispielsweise eine bestimmte Einstellung an der Heizung vornehmen, damit es wärmer wird, oder auch wenn wir das Radio leiser drehen.

Die obige Frage handelt von einer Wegkreuzung in unserem Inneren. Eine Wegkreuzung, an die wir im Laufe unseres Lebens immer wieder geraten. 

Die eine Richtung macht uns zu Opfern. Die andere zu Akteurinnen und Akteuren bzw. zu Schöpferinnen und Schöpfern – im Sinne von gestalterisch und “aus dem Vollen schöpfend”.

Ein noch dringlicheres Bild als jenes, bei dem wir an einer Wegkreuzung stehen, könnte sein: ein Sumpf aus Ereignissen und Emotionen, in dem wir von Zeit zu Zeit stecken, und der das Zeug dazu hat, uns nach unten zu saugen. Wir lassen entweder zu, dass wir immer weiter hineingezogen werden, oder wir bemühen uns um einen Ausweg.

Was genau geschieht in unserem Innern an solchen Wegkreuzungen, in solchen Sümpfen? Treffen wir eine Entscheidung? Und wenn ja, welche und wie?

Nehmen wir doch einfach mal den Sumpf, in dem ich mich Freitagabend und gestern Morgen befand. 

Das benachbarte Ehepaar über uns feierte in der Nacht von Freitag auf Samstag Geburtstag. Wie hilfreich wäre es in einem hellhörigen Haus wie dem unseren gewesen, im Vorhinein darüber informiert zu werden! Und wie frustriert ich stattdessen war, nach einem langen Tag nach Hause zu kommen, nur um dann festzustellen, dass überhaupt nicht an Ruhe zu denken war. Wenn das Kleinkind in der Wohnung über uns herumsprang und rannte. Wenn Stühle herumgeschoben wurden. Wenn die Gäste etappenweise kamen und gingen und sich dabei unbedarft laut im Hausflur unterhielten.

Mit den Kopfhörern konnte ich vielleicht die äußere Unruhe verdrängen. Nicht aber die innere. Verärgerung über die Rücksichtslosigkeit. Warum konnten die von oben uns denn keinen Zettel in den Briefkasten werfen und uns vorwarnen? Machen andere Hausgemeinschaften doch auch so. Wir wollen doch Menschen gar nicht absprechen, Geburtstag zu feiern. Wir hätten ins Kino und damit dem Lärm aus dem Weg gehen können. Meinetwegen mit Spätvorstellung. Wäre doch kein Problem gewesen. Aber uns an einem Freitagabend einfach so vor vollendete Tatsachen zu setzen?

Irgendwann gegen 2 Uhr, als die letzten Gäste gegangen waren, schlief ich ein. Und als ich um 8 Uhr aufstand, stellte ich fest, dass ich immer noch in meinem ganz persönlichen Sumpf von Gedanken und Emotionen steckte. 

Was ist dann in meinem Innern passiert?

Ich sage es ganz ehrlich: Es war eine knappe Kiste. Um heranzoomen zu können, was den Unterschied gemacht haben könnte, nehme ich das Ende vorweg:

Ich habe am späten Vormittag das Gespräch mit der Nachbarin gesucht und mit einer Bitte begonnen: Könnten wir uns bitte darauf einigen, dass Sie uns beim nächsten Mal ein paar Tage vorher Bescheid geben, wenn Sie eine solche Feier planen? Und damit sie nachvollziehen konnte, warum das für uns wichtig wäre, habe ich ihr unsere Lebenswirklichkeit und Bedürfnisse skizziert und betont, dass wir lieber zu den Menschen gehören, die sich mitfreuen, wenn es was zu feiern gibt, als zu denen, die sich daran stören. Die Nachbarin reagierte verständnisvoll und ließ sich auf die Vereinbarung ein. Wir konnten lächelnd-nickend in unsere Rest-Wochenenden gehen, und ich hatte meine Energie zur freien Verfügung zurück.

Das klingt einfach. War es aber definitiv nicht – wegen der Wut. 

Damit zu der Frage, was den Unterschied gemacht haben könnte, warum ich gestern Vormittag nicht mit der Wut eines Opfers nach oben gestampft und auf mein Recht gepocht habe, sondern mit dem Mut einer Gestalterin eine Brücke bauen konnte.

Dazu fällt mir zunächst ein Spruch meines Schlagzeugers Jens ein: Angesprochen auf seine Kreativität und Virtuosität, sagt er immer: 

Du kannst nichts aus dem Ärmel schütteln, was Du vorher nicht hineingesteckt hast.

Wenn wir in Schwierigkeiten bzw. Sümpfen stecken, ist die Frage besonders spannend, was wir vorher in unseren Ärmel gesteckt haben. Denn niemand, wirklich niemand würde unter Stress auf friedliche bzw. kreative Lösungen kommen, ohne dafür viel geübt und hart gearbeitet zu haben.

Ich rede von Trockenübungen. 

Eine meiner Trockenübungen der letzten Zeit war meine Ausbildung zur Mediatorin, die auch ein Modul über die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) enthielt. Die gesamte Ausbildung hat meine Sinne dafür geschärft, meine Bedürfnisse und die meiner Mitmenschen auf dem Schirm zu haben. Und zu begreifen, dass ich v. a. dann eine Chance habe, mit Anderen klarzukommen, wenn ich Verantwortung für meine Bedürfnisse übernehme. Das bedeutet auch: Verantwortung für meine Gefühle … auch wenn es, wie in diesem Falle, eine große Wut ist, hinter der wiederum Erschöpfung und Trauer zum Vorschein kommen.

Das ist ja schön und gut, mögt Ihr jetzt denken. Aber was hat das mit Kreativität zu tun?

Das Leben hält unzählige Szenarien wie die der lauten Party in der Nachbarschaft für uns bereit. So orginell und unerwartet derlei Szenarien sind, so kreativ werden unsere Antworten ausfallen müssen. Denn Konzepte und vorgefertigte Lösungen werden uns im Showdown nicht weiterhelfen. Sie sind im besten Fall unser Orientierungspunkt. Nicht mehr, nicht weniger. 

Das Wissen um die GfK war Freitagabend und Samstagmorgen die sprichwörtliche halbe Miete, die ich in meinen Ärmel gesteckt hatte. Die andere Hälfte bestand darin, mein Wissen so wieder aus dem Ärmel zu schütteln, dass etwas Gutes dabei herauskommen konnte. 

Das bedeutete ganz konkret: mich durchzufrickeln. Mit Yoga zum Runterkommen. Mit In-den-Spiegel-Gucken, während ich mich fragte, welche Art von Nachbarin ich sein wollte. Mit Tief-Durchatmen, bevor ich an die Tür im zweiten Stock klopfte. Mit Herzklopfen. Mit einer bewussten Entscheidung, möglichst mein Herz sprechen zu lassen, und nicht die Wut – lieber verletzlich als selbstgerecht. Und nachträglich zu gratulieren – sofern es passte. Es hatte ja immerhin einen Geburtstag zu feiern gegeben.

All diese Überlegungen habe ich angestellt. All diese Entscheidungen habe ich getroffen. Meine Ausbildung zur Mediatorin und mein erweitertes Wissen um Bedürfnisse und Gefühle waren der Ausgangspunkt. Was dann folgte, war meine Interpretation. Meine Improvisation.

Opfer von Umständen oder eigenverantwortliche, kreative Akteurinnnen und Akteure – welche innere Einstellung macht den Unterschied?

In diesem Moment, mit den frischen Eindrücken aus der Nachbarschaft im Sinn, würde ich diese Frage heute folgendermaßen beantworten:

Den Unterschied macht die Erkenntnis, dass ich mich einstellen kann. Ich rede nicht von Selbstkontrolle, mit der ich Gefühle und Bedürfnisse wegmanage. Sondern von Selbstwirksamkeit, mit der ich meinen Weg aus dem Sumpf von Ereignissen und Emotionen finde. 

Ich habe die Einstellung, mich selbst einstellen zu können, um mich kreativ auf das Leben einstellen zu können. Jetzt schwimme ich ganz schön weit raus.

Das Ganze hat etwas von Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Als Kind war ich unendlich fasziniert von dieser Geschichte. Was habe ich viel darüber nachgedacht. Irgendwie wusste ich ja, dass es nicht möglich war, sich selbst aus einem Sumpf zu ziehen, und gleichzeitg war da etwas in mir, das glaubte, dass es unter gewissen Umständen vielleicht doch gehen könnte.

Heute weiß ich, dass es unter gewissen Umständen tatsächlich möglich ist, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Und ich weiß aus der eigenen Biografie und Erfahrung, dass Kreativität bei diesem Phänomen, bei dieser “Superkraft”, eine gehörige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle spielt.

Passt vielleicht die Wortkreation schopfen, um all das mit einem Wort zu beschreiben, wovon dieser Newsletter handelt? Schopfen – die kreative Kraft, mit der wir uns aus einem vermeintlich aussichtslosen Szenario befreien. 

Wahrscheinlich ist diese Wortschöpfung eine seltsame Idee und wird sich nicht durchsetzen. Aber jetzt gerade habe ich ein bisschen Spaß daran.

Ich habe mich aus meinem Nachbarschaftsärger geschopft. 

Ganz verkehrt klingt das nicht.